3.21.2008

Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon

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Ich versetzte mich in seinen Blick hinein, bildete ihn in mir nach und nahm aus ihm heraus mein Spiegelbild in mich auf. So wie ich aussah und wirkte - dachte ich - war ich nie gewesen, keine einzige Minute meines Lebens. Nicht in der Schule, nicht im Studium, nicht in der Praxis. Geht es anderen auch so: dass sie sich in ihrem Äußeren nicht wiedererkennen? Dass ihnen das Spiegelbild wie eine Kulisse voll von plumper Verzerrung vorkommt? Dass sie mit Schrecken einen Abgrund bemerken zwischen der Wahrnehmung, die die Anderen von ihnen haben, und der Art, wie sie sich selbst erleben? Dass die Vertrautheit von innen und die Vertrautheit von außen so weit auseinander liegen können, dass sie kaum mehr als Vertrautheit mit demselben gelten können?
Die Ferne zu den Anderen, in die uns dieses Bewußtsein rückt, wird noch einmal größer, wenn uns klar wird, daß unsere äußere Gestalt den Anderen nicht so erscheint, wie den eigenen Augen. Menschen sieht man nicht wie Häuser, Bäume und Sterne. Man sieht sie in der Erwartung, ihnen auf bestimmte Weise begegnen zu können und sie dadurch zu einem Stück des eigenen Inneren zu machen. Die Einbildungskraft schneidet sie zurecht, damit sie zu den eigenen Wünschen und Hoffnungen passen, aber auch so, dass sich an ihnen die eigenen Ängste und Vorurteile bestätigen können. Wir gelangen nicht einmal sicher und unvoreingenommen bis zu den äußeren Konturen eines Anderen. Unterwegs wird der Blick abgelenkt und getrübt von all den Wünschen und Phantasmen, die uns zu dem besonderen, unverwechselbaren Menschen machen, der wir sind. Selbst die Außenwelt einer Innenwelt ist noch ein Stück unserer Innenwelt, ganz zu schweigen von den Gedanken, die wir uns über die fremde Innenwelt machen und die so unsicher und ungefestigt sind, dass sie mehr über uns selbst als über den Anderen aussagen.
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